Warten auf Godot: Jugoslawische Deserteure in Budapest

Große Schlagzeilen machen sie nicht, die Fahnenflüchtigen des Kosovokrieges. Dennoch berichten die europäischen Medien berichten seit dessen Ende sporadisch über die Situation der jungen Männer, die sich damals der Einberufung in die jugoslawische Bundesarmee durch Flucht entzogen. Wer will, ist also auch über die "vergessenen Helden" (Amnesty International) informiert. Informiert darüber, mit welchen Hoffnungen sie Jugoslawien verließen - teils von der eigenen Familie Morddrohungen ausgesetzt. Informiert über die Flugblätter, die Soldaten zur Desertion aufforderten - und wie NATO und Europäische Union sich taub stellen, wenn es darum geht, den Deserteuren, ihren Frauen und Kindern Asyl zu gewähren.

Die Zahlen über sich in Ungarn aufhaltenden Deserteuren schwanken zwischen 400 und 1.500. Bis heute hat nur einer von ihnen Asyl bekommen. Ihre Situation war im serbischen Wahlkampf als anschauliches Beispiel genutzt: "Schaut sie euch an, diese jämmerlichen Verräter, wie sie sich vom Westen haben in die Irre locken lassen!"

Wo die westliche Staatengemeinschaft durch aktives Nichstun glänzt, regen sich aber auch andere Kräfte. Im Herbst letzten Jahres fand sich eine Gruppe von gut vierzig Deserteuren in Budapest unter dem Dach des SAFE HOUSE zusammen, einer Initiative des langjährigen Aktivisten Bojan Aleksov. Er schuf mit diesem Projekt einen Anlaufpunkt für die Flüchtlinge und sorgte dafür, daß das Problem an Organisationen wie Amnesty International (AI) herangetragen wurde. Je klarer sich aber zeigte, daß es für die Deserteure und ihre Angehörigen so schnell keine Asylregelung geben würde, umso deutlicher wurde der Bedarf an einem auch politisch handlungsfähigen Instrument. So hoben die im SAFE HOUSE Engagierten im Frühjahr den Verein SEOBE 99 aus der Taufe.

Kurz vor dessen Legalisierung im Juli reiste Bojan Aleksov, immer noch die Integrationsfigur für die vielschichtige Deserteursgruppe, zu seiner Familie nach Belgrad. Bei einer abendlichen Fahrt durch die Stadt wurde er in einer Seitengasse von der staatlichen Sicherheitspolizei gestoppt, aus dem Auto gezerrt und fast einen Tag lang auf der zentralen Polizeistation festgehalten. Bojan Aleksov wurde "(...) wiederholt geschlagen, beschimpft und beleidigt, einschließlich homophober Drohungen und anderer erniedrigender Behandlung. Fünf Stunden lang wurde er misshandelt. So zwang man ihn, auf seinen Zehen zu stehen und schlug seinen Körper mit einem Gummiknüppel. Ihm wurde in diesen fünf Stunden, trotz einer Temperatur von 30 Grad Celsius, Wasser verweigert. Er wurde während der Nacht wach gehalten und am nächsten Morgen um 11.00 Uhr von drei Polizeibeamten mit einem Gummiknüppel auf die Fußsohlen, die Handflächen und andere Teile seines Körpers geschlagen." Nach seiner Freilassung, die nur durch das erniedrigende wie überlebensnotwendige Statement zustande kam, künftig mit der Staatspolizei zu kooperieren, gelang Bojan Aleksov die Flucht nach Sarajevo. Durch die Vermittlung deutscher Parlamentarier erhielt er ein Visum und ist seit einigen Wochen in Berlin.

Durch diese Ereignisse wurde die offizielle Zulassung von SEOBE 99 verzögert, jedoch nicht verhindert. Immerhin wird der Verein bereits von ungarischen und internationalen NGO's anerkannt. Das "Ungarische Zentrum zur Verteidigung der Menschenrechte" (MEJOK) unterstützt die Deserteure juristisch, Connection e.V. und das Europäische Bürgerforum begleiten SEOBE 99 in ihrer Arbeit. Mitte September konnten Mitglieder der Gruppe mit einer Sendereihe bei Civil Rádió, dem NGO-Sender Ungarns, beginnen.

Daß die Behörden in Budapest statt beantragten Asyl nur einjährige Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, ist möglicherweise Ausdruck unsicheren Lavierens aufgrund fehlender Vorgaben seitens EU und NATO, wie das Problem zu behandeln sei. Der EU-Beitrittskandidat und NATO-Frischling Ungarn wird sich verständlicherweise nicht dort zu profilieren versuchen, wo die führenden Länder jede Initiative vermeiden. Die internationale Gemeinschaft übt sich offensichtlich im aktiven Weghören, wenn Amnesty International fordert, "staatliche Verantwortung" zu zeigen und mit "den ungarischen wie anderen nationalen Behörden" zusammenzuarbeiten, um "sicherzustellen, daß denjenigen, die aus der Bundesrepublik Jugoslawien aus Gewissens- oder Glaubensgründen flüchteten, um so dem Militärdienst während des Kosovokonfliktes zu entgehen, ein wirksamer und dauerhafter Schutz gewährt wird - in Übereinstimmung mit dem anerkannten Prinzip des non-refoulement."

Nach anderthalb Jahren ohne eine nennenswerte Veränderung konzentrieren sich SEOBE 99 und die unterstützenden Organisationen nun darauf, Perspektiven im Land selbst zu schaffen; das scheint momentan der einzig gangbare Weg. Als Deutschland vor einigen Monaten das "Kleine Asyl" für jugoslawische Deserteure des Kosovokriegs einführte, wurden einige Hoffnungen geweckt, die sich aber ein weiteres Mal als Trugbild entpuppten. Die Initiative mehrerer deutscher Städte (Münster, Rostock u.a.), den Deserteuren Gastrecht zu gewähren, stieß bald auf bürokratische Mauern. Tatsächlich haben bisher nur zwei der in Ungarn festsitzenden Deserteure auf diese Weise Zuflucht in Deutschland finden können, alle weiteren Anträge wurden abgelehnt. Begründet wird dann auch mal damit, daß die Serben nicht ausreichend glaubhaft machen könnten, wirklich Deserteure zu sein. Daß sie außerdem in Ungarn nicht Hunger leiden, wird ihnen zusätzlich zum Vorwurf gemacht.

Die Leute von SEOBE 99 reagieren auf Journalisten und die westeuropäischen Initiativen schon lange nicht mehr euphorisch; die Hoffnung auf einen sicheren Status aufgeben wollen sie dennoch nicht. Wenn der nächste nationalistische Konflikt entbrennt, werden nicht noch einmal Tausende junger Männer aus den Schützengräben in eine unsichere Situation ohne Chance auf Rückkehr fliehen. Solange Europa sich nicht zuständig fühlt, leistet es Tag für Tag einen willkommenen Beitrag zur Destabilisierung im Südosten unseres Kontinents.

 

 

Sarah Lindgren